Interview: Zum Schutz von Demokratie und Menschenwürde – das Bayerische Bündnis für Toleranz

Interview: Zum Schutz von Demokratie und Menschenwürde – das Bayerische Bündnis für Toleranz

Das Bayerische Bündnis für Toleranz wurde 2005 von der evangelischen und katholischen Kirche, dem DGB, der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern sowie dem Bayerischen Innenministerium ins Leben gerufen. Erklärtes Ziel des Bündnisses: Die derzeit knapp 80 kirchlichen, zivilgesellschaftlichen und staatlichen Mitgliedsorganisationen – darunter auch die AEEB – treten für eine tolerante Gesellschaft sowie für den Schutz von Menschenwürde und Demokratie ein. – Die AEEB sprach mit Diplom-Pädagoge und Politologe Martin Becher, der seit 2011 Geschäftsführer des Bayerischen Bündnis für Toleranz ist, über aktuelle gesellschaftspolitische Tendenzen und Herausforderungen.

AEEB: Zunehmender Rechtspopulismus in Polen und Frankreich, ein Gesetz zum Verbot von LGBTQ-Inhalten in Ungarn und in der Türkei werden seit Jahren die Rechte auf Meinungs- und Pressefreiheit systematisch untergraben. – Aktuelle Entwicklungen, die zeigen: Selbst in Europa sind Demokratie und die damit verbundenen Werte keine Selbstverständlichkeit mehr. Wie beurteilen Sie die Lage bzw. ist die europäische Demokratie ernsthaft in Gefahr?

Martin Becher: Sie weisen zu Recht auf sehr bedenkliche Entwicklungen hin. Die Liste lässt sich ja ohne Weiteres verlängern. Gleichzeitig können wir konstatieren, dass die globale Sehnsucht nach Demokratie, Freiheit und Menschenrechten ungebrochen ist – hierfür stehen Belarus, Hongkong und auch der arabische Frühling. Die junge Generation und hier insbesondere die Frauen sind weltweit so politisiert wie schon lange nicht mehr. Es gibt neue internationale Bewegungen wie “Fridays for Future” oder “Black Lives Matter”. Insgesamt ergibt sich also ein sehr unübersichtliches Bild – emanzipatorische Bewegungen stehen eher regressiv-autoritären Strömungen gegenüber. Die autoritäre Versuchung, die vereinfacht und eine Innen-Außen-Dichotomie etabliert, entfaltet eine große Anziehungskraft auf viele Menschen, insbesondere mittelalte Männer. So entstehen unvorstellbare Konstellationen: der Sexist Trump mit dem Evangelikalen Pence, der ehemalige KGB-Agent Putin mit dem rechtsextremen Flügel der AfD und Marine Le Pen. Aus alledem lässt sich schließen: gerade in Europa ist die Demokratie nicht wirklich existentiell bedroht, aber ein Selbstläufer – wie man 1989 meinte – sind Demokratie und Menschenrechte leider nicht.

AEEB: Auch bei uns in Deutschland lassen sich in den letzten Jahren verstärkt rassistische, rechtsextreme und antisemitische Tendenzen beobachten. Wie versucht das Bündnis für Toleranz dem entgegenzuwirken?

Becher: Einer der Stärken des Bündnisses besteht in der Vielfalt seiner Mitglieder. Keine andere Organisation in Bayern, die ähnlich wie wir im sogenannten politischen Vorraum arbeitet, kann auf eine derartige Breite und Vielfalt zurück greifen. Wenn also all die beteiligten Partner in ihren eigenen Reihen darauf achten, Rassismus, Antisemitismus und extrem rechte Positionen zu ächten, dann haben wir schon viel erreicht. Und dazu ist es eben wichtig, dass wir uns nicht wechselseitig öffentlich vorführen, sondern uns im Gegenteil in unseren Bemühungen unterstützen. Dazu dient u.a. unser Leitspruch: “Wir sind erst dann Teil der Lösung, wenn wir erkennen, dass wir Teil des Problems sind.” Förderliche Haltungen sind also Demut und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Eine wichtige Erkenntnis kommt bereits in unserem Namen zum Ausdruck: wir stehen für (!) bestimmte Werte und definieren uns nicht nur über die Ablehnung des Menschenfeindlichen. Wenn es uns gelingt, diese Haltungen zu internalisieren und wir dann noch Formate finden, in denen sich möglichst viele unserer Mitglieder wiederfinden, können wir unseren Beitrag sicher leisten.

AEEB: Was sind für Sie die größten gesellschaftspolitischen Herausforderungen in der Zukunft? Welche Aufgabe kann die Erwachsenenbildung in diesem Zusammenhang übernehmen bzw. leisten?

Becher: Jahrelang hätte ich auf diese Frage sofort geantwortet: Erwachsenenbildung muss “Ort öffentlicher Verständigung” sein – eine Formulierung unserer nordrhein-westfälischen Kollegen Norbert Reichling und Paul Ciupke. Diese Beschreibung bezog sich auf das Diskurshafte von Erwachsenenbildung als Aufgabe im politisch-gesellschaftlichen Kontext. Heute ist die Herausforderung eine Andere, und das hat viel mit Ihrer ersten Frage zu tun. Aus meiner Perspektive sind viele moderne demokratische Gesellschaften geradezu verzweifelt auf der Suche nach ihrem “Kern”, nach dem, was sie ausmacht und im Inneren zusammenhält. Nicht umsonst diskutieren wir über “Leitkultur”, nennen Behörden “Heimatministerien”. Erwachsenenbildung kann hier gemeinsam mit anderen öffentlich verpflichteten Institutionen einen Beitrag leisten, diesen Kern, dieses Zentrum zu finden. Eine wichtige Aufgabe besteht also darin, Menschen aus ihren unterschiedlichen Blasen zusammenzubringen. Wir setzen das in sogenannten “Perspektivwechsel-Seminaren” um – etwa wenn Polizei und Gegendemonstrant*innen bei Nazi-Demos miteinander über ihre jeweiligen Wahrnehmungen und Erfahrungen sprechen.

AEEB: Lieber Herr Becher, am 2. Oktober 2021 darf endlich wieder die nächste “Lange Nacht der Demokratie” (siehe unten) stattfinden. Warum sind solche Veranstaltungen von wichtiger Bedeutung für unsere Gesellschaft?

Becher: Die Lange Nacht der Demokratie ist in vielfacher Hinsicht ein Musterbeispiel für Formate, die wir entwickeln müssen, um politische Bildung attraktiv zu gestalten. Sie hat Eventcharakter, spricht durch das veranstaltende Netzwerk unterschiedliche Personen an (Jugendring, Erwachsenenbildung, kommunale Akteure etc.) und sie findet simultan an ca. vierzig Orten statt und wird deshalb überregional wahrgenommen. So besteht die Chance, dass wir für politische Themen viele, vor allem viele unterschiedliche Menschen erreichen – das benötigt unser demokratisches Gemeinwesen!

Text: Martin Becher (Bayerisches Bündnis für Toleranz), Sabine Löcker (AEEB)

Foto: UnratedStudio auf pixabay

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