Die neue EKD Denkschrift “Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen”

Eine Rezension von Dr. Jürgen Belz, Direktor des RPZ der ELKB

Die Autor*innen der neuen Bildungsdenkschrift der EKD verstehen diese Schrift als Richtungsanzeige. Dem Leser/ der Leserin begegnet nicht ein argumentativ ausgewogenes Konsenspapier, sondern der mutige Versuch evangelische Bildung unter dem Leitbegriff „religiöse Biografie“ zu reformulieren. Konsequent wird Bildungsarbeit in evangelischer (Mit-)Verantwortung vom einzelnen Menschen hergedacht. Auf den ersten Blick wird bekanntes, religionspädagogisches Grundrepertoire angesprochen. Das Neue an dieser richtungsweisenden Schrift ist der kybernetische Ansatz: Wie lässt sich Bildungsarbeit steuern, wenn religiöse Bildungsbiografien und nicht mehr primär institutionelle Interessen leitend sind?

Der erste Teil der Schrift untersucht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen religiöser Bildung in lebensgeschichtlicher Perspektive. Lebensentwürfe sind in einer Multioptionsgesellschaft fluide geworden. Stabil ist einzig der Wandel in einer spätmodernen Individualitätskultur. Wie kann Religion in zeitgenössischen Kontexten zur Ressource von biografischen Bildungsprozessen werden? Die Erinnerung an reformatorische Grundeinsichten und Pointen des Evangeliums dienen in diesem Zusammenhang der Profilierung evangelischer Bildungsarbeit (S.: 40-45). Sie wird eingezeichnet in die Spannungsfelder von Unvertretbarkeit des individuellen Glaubens und notwendiger Sozialität, persönlichen Lebenshorizonten und globalen Herausforderungen.

Die individuelle Biografie wird damit zum Bewährungs- und Zielhorizont religiöser Bildungssteuerung. Dieser Perspektivwechsel stellt die bisherigen Logiken kirchlicher Bildungssteuerung auf den Kopf. Handlungsfeldkonferenzen, Zielgruppenarbeit, sektorale kirchliche Bildungsarbeit, kirchenbehördliche Organisation und Steuerungsversuche … all das wir gründlich gegen den Strich gebürstet.

Wegzeichen evangelischer Bildungsarbeit werden aufgestellt, um neue Wege zu weisen:

  • Der Leitbegriff „Empowerment“ erinnert an ein Grundanliegen evangelischer Bildung: Menschen darin zu fördern, „sich als Ebenbilder Gottes zu entfalten oder anders gesagt: sich zu bilden.“ (S.: 19)
  • Biblische Erzähltraditionen öffnen Resonanzräume für individuelle Narrationen.
  • Leiblichkeit wird zu einem wichtigen Schlüssel menschlicher Entwicklung.
  • Digitalität wird zur neuen Gestaltungsaufgabe religiöser Bildung.
  • Ethische Fragestellungen fordern Antworten und christliches Handeln.
  • Christliche Freiheit findet ihren Ausdruck in reflektierter und aufgeklärter Religiosität.

Bildungsverantwortliche werden auf diesem Weg die Komfortzone alter Sehgewohnheiten hinter sich lassen müssen. Wenn sie den Wegzeichen dieser neuen Konzeptualisierung folgen, werden sie ein neues Gespür für die Fragen, Ängste und Hoffnungen der Mitmenschen entwickeln. Der biografischen Logik geht es im Kern um die Wahrnehmung und Aufnahme der individuellen lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhänge als dem Ort, an dem sich religiöse Bildung vollzieht. Insofern ist es in biografischer Perspektive wesentlich, Gelegenheiten wahrzunehmen und (Lern-)Settings für Menschen einzurichten, in denen Menschen in ihren Bildungsprozessen getröstet, bestärkt und zum Handeln ermutigt werden. Der nächste Schritt auf dem Lebensweg wird zum Thema. Diese Zugangsweise wirkt auch auf die Wahrnehmung von Bildungsorten: Gemeinde wird dann Durchgangsort, Rastplatz und Tankstelle sein, Schulen werden zu Denk- und Erfahrungsräumen auf Zeit, kirchliche Bildungsorte zu Transiträumen. Die jeweilige Eigenlogik dieser Orte wird neu zu bedenken sein, um eine vernetzte Zugangsweise zu Bildungsprozessen zu eröffnen.

Entsprechend wird im dritten Teil der EKD-Schrift der weite Horizont evangelischer Bildungsarbeit in biografischer Hinsicht eröffnet. Wer beginnt diese einzelnen Aspekte religiöser Bildung vernetzt zu denken, wird Konsequenzen für evangelische Bildungsarbeit ziehen. Das ist herausfordernd und lohnend zugleich. Für vertiefte Wahrnehmung und professionelle Reflexion braucht es ein Netzwerk Pädagogik im Raum der Kirche, das verlässliche Knotenpunkte kennt, aber offen ist für neue sich immer wieder wandelnde Strukturen in der Zusammenarbeit. Wenn die religiöse Bildungsbiografie als Ausgangspunkt der Überlegungen gewählt wird, stellt die EKD-Schrift die Frage der Steuerung von Bildungsarbeit insgesamt.

Während der Begriff Bildungslandschaft (vgl. Bildungskonzept der ELKB 2016) in konzeptioneller Hinsicht eher einen heuristischen Charakter trägt, weist die aktuelle Richtungsanzeige die Verantwortlichen deutlicher auf ihre Leitungsaufgabe hin: Da es aus Sicht der Autoren keine „zentrale Steuerungsinstanz evangelisch verantworteter Bildung gibt“ (S.: 14), ist eine Vernetzung der Bildungsakteure und der Institutionen der kybernetisch notwendige Ansatz.

Die Grunddynamik evangelischer Bildungssteuerung“ ist „im Sinne des allgemeinen Priestertums aller Getauften … als ein Geschehen zu konzeptualisieren, das Ideen, Kompetenzen, Impulse … aufzugreifen sucht und verschiedene Steuerungsebenen vernetzend aufeinander bezieht.“ (S.: 14f) Als leitende Grundaufgabe wird im Bereich kirchlicher Bildungsarbeit formuliert, dass sich die Handelnden im Feld der religiösen Bildung vernetzen und einen inhaltlichen Konsens herstellen mit dem Ziel, Kooperationen zu ermöglichen, Wechselbezüge wahrzunehmen und zu fördern, Synergien zu erzielen und ihre Potenziale zu bündeln. (vgl. S.: 15)

Das Schlusskapitel bietet Verantwortlichen eine große Zahl an thematisch geordneten Fragestellungen, die sie auf dem Weg zu einer vernetzten Steuerung evangelischer Bildungsarbeit unterstützen.  Für alle, die Lust haben, sich auf den Weg zu machen, stellen sich darüber hinaus Fragen:

  • Gibt es zukünftig Ressourcen für die Vernetzung und verlässliche Denkräume für Verantwortliche?
  • Wie werden Initiativen, Projekte und dauerhafte Bildungsaufgaben evaluiert? Wie werden Ergebnisse von Prozessen gesichert?
  • Welche Aufgabe kommt den Organen der Kirchenleitung zu?

In einer Sache sind sich die Autorinnen und Autoren der Richtungsanzeige einig: Wenn Bildungsarbeit dieser Logik folgt,wird sie individueller und pluraler, vernetzter und uneigennütziger, mutiger und experimenteller!(S.: 134)

Titel: Religiöse Bildungsgrafien ermöglichen

Hrsg: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)

Erschienen im:  Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2022

ISBN 978-3-374-07112-8

Preis: 9,00 €

Download als PDF: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/religioese_bildungsbiografien_EVA_2021.pdf

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